Silvester - oder the same procedur
Sylvester, mit „y" geschrieben, erschien mir damals irgendwie gebildeter als nur mit „i". Damals, das war meine große Zeit als Hauptautor und Mitherausgeber, Anzeigenabteilungsableiter und Abonnentenwerber unserer offsetgenudelten Schülerzeitschrift „Synthese" in Celle. Je kleiner und bescheidener die Wirklichkeit desto pompöser deren Beschreibung. Damals wurde ich belehrt, daß Sylvester nicht nur ungebildet, sondern schlicht falsch sei. Der letzte Tag des Jahres ist nach Papst Silvester benannt (gestorben 335, jawohl, so kurz nach der Gründung des Weihnachtsfestes gab es gleich einen Papst!). Die Tatsache, daß diese Seine frühe Heiligkeit „der I." in seinem Namen trägt, beweist, daß er irgendwie auch beliebt gewesen sein muss, jedenfalls nicht unwichtig. Sonst würden nicht andere seinen Namen auch gewünscht haben und Silvester der II. und III. geworden sein. Katalin muss es wissen. Sie ist katholisch, Ungarin und 28 Jahre alt, und besucht uns derzeit in der Heide, um Silvester einmal protestantisch zu erleben. Und dabei wird Katalin folgendes erleben können: Trotz der frühkirchlichen Heiligkeit ist Silvester kein kirchlicher Feiertag (geblieben), sondern ein Tag bzw. Abend des Tanzens allein, zu zweit und in Masse, ein Abend des Feierns, des Speisens und der Minutenzählerei um Mitternacht geworden. Ein Abend in jedem Fall voller Rituale: Die einen töten die in der Badewanne frisch-lebend gehaltenen Karpfen in einem Silvester-Opfer-Ritual. (Oder verschenken den Fisch hastig am Nachmittag, wie Christines Eltern, die das inzwischen liebe Tier dummerweise auf „Eugen" getauft und damit zur Persönlichkeit gemacht hatten, die man nicht mehr aus Verzehr-Gründen umbringt). Wieder andere fiebern den 15 Minuten im 3. Programm entgegen mit „Dinner for one", das in- zwischen ein zwanghaftes Dinner für generationsübergreifende Millionen wurde, deswegen manche andere Speisen draußen in der Küche verbrutzelten, überkochten oder anbrannten. Wieder andere blicken zu genau bestimmten Sternbildern zu einer genau bestimmten Uhrzeit hoch, weil dann alle anderen Familienmitglieder und noch liebere Menschen - verstreut in alle Welt zur selben Zeit auf denselben Stern schauen oder zumindest hinter Wolken ahnen. Astronomische Symbiose sozusagen - bevorzugt von Alexanders Familie nebenan, die auf sich hält (in diesen Dingen der sehr hoch am Himmel gehaltenen Gemeinsamkeit, also möglichst weit weg). Wieder andere beginnen das Umkleiden für den Silvesterball am frühen Nachmittag und vergleichen die Rolex-Zeiten, um in Ermangelung einer gefühlsmäßigen Symbiose (wie bei Alexander beabsichtigt) zumindest eine zeitliche Symbiose mit den meisten Mitteleuropäern lustvoll zu erleben. Wieder andere feiern sich in dunklen Kirchen mit Kerzen, Liedern und Gebeten in das neue Jahr und kommen bei den Ritualen des nun längst seligen HI. Vaters Silvester sicher am ehesten entgegen (Katalin gehört dazu, wenn sie in Ungarn feiert). Ein ebenso einfaches wie besonderes Ritual zu Silvester ist die eine Zeitstunde, die sich auf den alten Höfen der Lüneburger Heide oder Katalins ungarischer Pusta ebenso lange hielt wie überall woanders - wo Menschen noch keinen Ball, keine Kirche, kein 3. oder anderes TV-Programm besaßen. Da saßen und sitzen die Mitglieder einer Familie, einer Gruppe zusammen und jede und jeder erzählt, was ihm im ablaufenden Jahr besonders wichtig würde. Im Leichten wie im Schwierigen. Ein altes Ritual, ein gutes Ritual, das verarbeiten hilft und vergnügt sein lässt, wie vieles wieder überstanden und bereit für Neues ist. Silvester wird es so gemeint haben. Im Sinne eines the same precedure as every year. Nämlich jedes Jahr zu nutzen. Für alle Karpfentöter, Speisen-Esser, Trinkgenossen, Kirchgänger und Himmelstürmer und Tänzer. Eine Stunde Nach-Denken über 1996.
31. Dezember 1996